Schule & Lernen
20. Feb. 2025
·
7 Minuten Lesezeit

Schlecht in Mathe: Was ist Dyskalkulie?

Geschrieben von:
Katharina Wurnig
Katharina Wurnig
Artikelinfo:

Dyskalkulie oder Rechenstörung bezeichnet eine spezifische Beeinträchtigung der Rechenfähigkeiten, die nicht durch allgemeine Intelligenzminderung oder unzureichende Bildung erklärt werden kann. Agnes Goldmann ist Dyskalkulie-Therapeutin und hat uns Antworten auf die wichtigsten Fragen rund um Dyskalkulie gegeben.

Was versteht man unter Dyskalkulie?

Im täglichen Sprachgebrauch werden die Begriffe Dyskalkulie, Rechenschwäche und Rechenstörung häufig als gleichbedeutend betrachtet.

 

Laut ICD-10 (medizinische Klassifikationsliste der Weltgesundheitsorganisation, WHO) bezeichnet die Rechenstörung (F81.2) eine spezifische Beeinträchtigung der Rechenfähigkeiten, die nicht durch allgemeine Intelligenzminderung oder unzureichende Bildung erklärt werden kann.

 

Dabei betrifft das Defizit die Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten (Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division) und weniger die höheren mathematischen Fertigkeiten, die für Algebra, Trigonometrie, Geometrie und Differential- sowie Integralrechnung benötigt werden.

Hat jedes Kind, das schlecht in Mathe ist,

 Dyskalkulie?

Was sind Hinweise, dass bei meinem Kind Dyskalkulie vorliegen könnte?

Nicht jedes Kind, das nicht gut in Mathematik ist, hat Dyskalkulie. Kinder mit Dyskalkulie haben Schwierigkeiten, eine Menge als Menge zu erfassen

 

So müssen sie beispielweise Mengen immer wieder aufs Neue zählend erfassen. 

Das zählende Rechnen gilt das Sackgasse in der mathematischen Entwicklung und ist wahnsinnig anstrengend. Ein weiterer Hinweis für Dyskalkulie könnte sein, dass erlerntes Wissen am nächsten Tag nicht mehr abrufbar ist und wieder neu erlernt werden muss. 

Kinder mit Rechenstörung machen bei mathematischen Aufgaben mehr Fehler und benötigen länger um diese zu lösen als Kinder ohne Rechenstörung. Betroffen sind dabei vorwiegend die Bereiche Basiskompetenzen, Grundrechenarten sowie Textaufgaben. Bei einer Rechenstörung können verschiedene Bereiche des mathematischen Denkens beeinträchtigt sein. Wichtige Grundfertigkeiten in der Schuleingangsphase sind u. a. die Eins-zu-eins Zuordnung, Längenvergleiche, das Anordnen nach Größe, das Zählen und Zerlegen von Zahlen sowie einfache alltagsbezogene Rechnungen. Defizite in diesen Bereichen können zu langfristigen Verständnisproblemen führen, da aufeinander aufbauende Rechenvorgänge schwerer nachvollzogen werden können.

Anzeichen für Schwierigkeiten im Rechenerwerb und dabei besonders für Kinder mit Dyskalkulie sind zum Beispiel:

  • Das Festhalten an der Strategie des zählenden Rechnens:
    Das zählende Rechnen passiert dabei oft versteckt, weil es den Kindern unangenehm ist und sie wissen, dass es unerwünscht ist. Oft sind sie dabei auch sehr schnell, sodass Außenstehende es nicht direkt wahrnehmen. Dabei werden oft auch selbst sehr einfache Aufgaben (wie plus oder minus 1) gezählt. Betroffene Kinder erkennen dabei auch oft Zusammenhänge nicht - vertauscht man die Summanden, wird kein Zusammenhang dahinter gesehen, sondern das Ergebnis abermals zählend errechnet (z. B. 2+8 = 8+2). Besondere Schwierigkeiten zeigen sich auch bei Rechnungen mit Zehnerüber- und Zehnerunterschreitungen, diese werden meist ausschließlich zählend errechnet.
  • Keine oder mangelnde Festigung im Zahlenraum 10:
    Das Zerlegen von Zahlen im Zahlenraum 10 gelingt nur erschwert, ebenso wie das Erlernen der Zehnerfreunde/verliebten Zahlen (Additionen im Zahlenraum 10, die zusammen 10 ergeben).
  • Probleme bei der Mengen-Zahlen-Zuordnung:
    Das Erkennen von Fingerbildern ist manchmal erschwert. Das simultane Erfassen von Mengen (z. B. die 5 als ganze Hand wegnehmen) gelingt oft nicht. Auch hier zeigen die Kinder ein zählendes Rechnen. Auch Schätzaufgaben von Mengen sind oft schwierig für Kinder mit Dyskalkulie (wird z. B. die gleiche Menge einmal mit größeren und einmal mit kleineren Abständen aufgelegt, werden sie jene Menge als größer wahrnehmen, welche mehr Platz beansprucht).
  • Unsicherheiten im Vorwärts- und Rückwärtszählen
  • Verzögerter Erwerb von Rechenfakten

    Malreihen werden auswendig gelernt, ohne ein Verständnis dahinter aufgebaut zu haben.

  • Fehlendes oder mangelndes Verständnis für Rechenoperationen der Grundrechenarten:

    Es wird kein Zusammenhang zwischen Addition und Subtraktion bzw. Multiplikation und Division erkannt. Betroffene Kinder können oft nicht erklären, dass sich eine Multiplikation aus Additionen ergibt (z. B. 3x2 = 2+2+2)

  • Fehlendes oder mangelndes Verständnis für das Stellenwertsystem:
    Beim Lesen, Schreiben und Rechnen kommt es oft zu einem Vertauschen von Einern und Zehnern. Das Verständnis für Bündelungen ist nicht bzw. mangelhaft gegeben.
  • Schwierigkeiten in der Orientierung am Zahlenstrahl:
    Betroffenen Kindern fällt es z. B. oft schwer, die Abstände am Zahlenstrahl richtig einzuzeichnen, die Lage einer Zahl zu bestimmen, die Zahlen- oder Zehnernachbarn einer Zahl zu benennen.
  • Erschwertes Verständnis von Größen:
    Das Erlernen von Längen- und Gewichtsmaßen, das Rechen mit Geld oder das Benennen von Uhrzeiten gelingt oft nur schwer bzw. stark verlangsamt.
  • Erschwertes Verständnis von Textaufgaben:
    Textaufgaben sinnerfassend zu lesen und die entsprechenden Rechenoperationen zu setzen, ist oft besonders erschwert. Es kann oft beobachtet werden, dass die Zahlen aus dem Text in willkürliche Rechenoperationen verpackt werden.

Was sind die Ursachen einer Rechenstörung?

Eine Rechenstörung kann durch eine Vielzahl von Faktoren verursacht werden. Laut aktueller Studien spielen vor allem auch genetische Einflüsse eine bedeutende Rolle und sprechen für eine erbliche Komponente. Insgesamt können der Entstehung einer Rechenstörung biologische, genetischen, kognitiven und Umweltfaktoren zugrunde liegen. Eine Rechenstörung entsteht oft durch ein Zusammenspiel dieser verschiedenen Faktoren. Als wichtigste Ursachen bzw. Einflussfaktoren gelten:

  • Neurologische und biologische Faktoren (strukturelle und funktionelle Unterschiede in bestimmten Hirnregionen, die mit der Verarbeitung numerischer Informationen in Zusammenhang stehen; verminderte Vernetzung zwischen Hirnarealen, die an mathematischer Verarbeitung beteiligt sind).
  • Genetische Faktoren (familiäre Häufung; genetische Veranlagung)
  • Kognitive Faktoren (Arbeitsgedächtnis, visuelle und räumliche Verarbeitung)
  • Entwicklungsstörungen (Komplikationen bei der Geburt; Komorbidität wie ADHS, Legasthenie oder Entwicklungsstörungen)
  • Psychosoziale und Umweltfaktoren (Lernumfeld, ungeeignete Unterrichtsmethoden, emotionale oder soziale Faktoren)
Agnes Goldmann - Dyskalkulie Therapie Bild 06
Agnes Goldmann - Dyskalkulie Therapie Bild 02

Wie erfolgt die Diagnose? 

Am Beginn der Förderdiagnostik steht zunächst eine anamnesische Erhebung (Schwangerschaft und Geburt; kindliche Entwicklung; Erhebung medizinischer, schulischer und familiärer Faktoren; sonstige Auffälligkeiten, bisherige Fördermaßnahmen).

 

Darauf folgt die Erhebung der Rechenleistung mittels standardisierter Testverfahren (z. B. HRT, BASIS-Math).

 

Einen besonderen Stellenwert nimmt hier auch immer die Verhaltensbeobachtung ein, um Aufschlüsse über Problemlösestrategien und emotionale Reaktionen (Motivation, Frustration, Angst, etc.) zu erhalten.

 

Im Anschluss daran werden die Eltern über das Ergebnis und mögliche Fördermaßnahmen aufgeklärt.

 

Es gibt einerseits die  klinisch-psychologische Diagnostik  und andererseits  gezielte pädagogische /Förderdiagnostik von Fachkräften. Die psychologische Diagnostik umfasst in der Regel ergänzend dazu eine Intelligenzdiagnostik, eine Erhebung des Arbeitsgedächtnisses und der Aufmerksamkeitsleistung sowie eine Überprüfung der Lese- und Rechtschreibfähigkeiten zur Erkennung komorbider Störungen. Eine gezielte Förderdiagnostik bietet konkrete Ansatzpunkte für die Förderung und Weiterentwicklung der mathematischen Kompetenzen. 

Was kann ich tun, wenn mein Kind betroffen ist?

Ein Kind, das betroffen ist, sollte eine Dyskalkulietherapie erhalten.

 

Dabei sollte eine umfassende Eingangsdiagnostik stattfinden, um individuelle Behandlungsziele definieren zu können.

 

Darauf aufbauend könnte ein umfassendes Rechentraining stattfinden, das sich an den spezifischen Schwierigkeiten des Kindes orientiert. Dabei wäre es ratsam, auf Anschauungsmaterial zurück zu greifen, um ein konkretes Verständnis von Zahlen und Mengen zu fördern. Da Zahlen und Mengen vor allem für Kinder mit Dyskalkulie sehr abstrakt sind, sollten diese in der Therapie für die Kinder im wahrsten Sinne des Wortes „begreifbar“ gemacht werden.

 

In meiner Praxis legen mein Team und ich zusätzlich auch viel Wert darauf, das Rechnen wieder zu etwas Erfreulichem zu machen, indem wir spielerisch mit den Kindern lernen. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass viele Kinder mit einer ganz anderen Motivation an die Sache herangehen, wenn wir mit diesen nicht nur ein Arbeitsblatt nach dem anderen am Tisch durchpauken, sondern wortwörtlich Bewegung in die Sache bringen. Die Therapie könnte meiner Ansicht nach zudem mehr umfassen, als nur rein das Rechnen selbst. Wir verfolgen zusätzlich zum Rechentraining auch einen Coachingansatz, der das Kind als ganzheitliche Person ansieht, mit all seinen Schwächen aber vor allem auch mit all seinen Stärken und Fähigkeiten. Das Kind darf erleben, dass es genauso richtig ist, wie es ist. Außerdem legen wir Wert darauf den Kindern zu vermitteln, dass jeder Mensch seine Stärken und Schwächen hat und dies etwas völlig Normales ist. Dass das Kind sich nicht auf seine Rechenschwäche reduziert, ist uns wichtig. Das Selbstbewusstsein des Kindes sollte gestärkt und Ängste abgebaut werden.

 

Natürlich ist es auch wichtig, möglichst frühzeitig mit der Förderung zu beginnen, idealerweise bereits zu Beginn der Volksschulzeit, um schulischen und sozialen negativen Folgen vorzubeugen. 

Agnes Goldmann - Dyskalkulie Therapie Bild 03
Agnes Goldmann - Dyskalkulie Therapie Bild 04

Muss die schule Rücksicht auf eine Dyskalkulie nehmen?

In Österreich gibt es keine einheitliche Regelung für den Umgang mit Dyskalkulie in der Schule. Dennoch wird durch Erlässe wie das Rundschreiben Nr. 27/2017 des Bildungsministeriums empfohlen, auf Kinder mit Rechenschwierigkeiten Rücksicht zu nehmen.

 

Schulen haben die Möglichkeit, individuelle Fördermaßnahmen anzubieten, wie z. B. spezielle Übungseinheiten, angepasste Lehrmaterialien oder Förderpläne. Ziel ist es, die Kinder bestmöglich zu unterstützen, um ihre schulischen Leistungen zu verbessern. Lehrpersonen können im Rahmen ihrer Möglichkeiten auf die Bedürfnisse betroffener Schüler:innen eingehen. Eine Kooperation zwischen Eltern und Lehrpersonen ist dabei empfehlenswert.

 

Gegebenenfalls kann auch Unterstützung von der Schulpsychologie hinzugezogen werden. Im Idealfall berücksichtigt die Schule die individuellen Bedürfnisse von Kindern mit Dyskalkulie, um ihnen den Schulalltag zu erleichtern und ihre Entwicklung zu fördern.

Welche Folgen könnte eine mögliche Diagnose haben für die spätere schulische Laufbahn?

Mit der richtigen Unterstützung können schulische Leistungen stabilisiert und die Motivation im Schulalltag erhöht werden.

 

Ohne adäquate Hilfe könnten sich Rechenschwierigkeiten langfristig negativ auf die schulische Entwicklung auswirken. Da die Kinder oft trotz großer Bemühungen immer wieder Misserfolge erleben, zeigen sie sich verständlicherweise früher oder später frustriert. Diese Frustration kann im schlimmsten Fall in einem geringen Selbstwert, Angst vor Mathematik bzw. vor der Schule selbst oder psychosomatischen Beschwerden wie Übelkeit, Kopf- oder Bauchschmerzen münden. Bekommen Kinder dazu auch noch zu hören, sie seien unwillig, faul oder dumm, kann das fatale Folgen haben.

Eine frühzeitige Diagnose von Dyskalkulie kann den schulischen Werdegang eines betroffenen Kindes positiv beeinflussen. Sobald die Rechenschwäche erkannt wird, können gezielte Fördermaßnahmen eingeleitet werden, die das mathematische Verständnis verbessern und das Selbstvertrauen des Kindes stärken. 

Gibt es noch Tipps für Eltern von betroffenen Kindern?

Eltern können ihrem Kind mit Dyskalkulie helfen, indem sie ihm erklären, was Dyskalkulie ist, Verständnis zeigen und die Stärken des Kindes betonen.

 

Eine Rechenstörung hat nichts mit seiner Intelligenz zu tun, auch das gilt es dem Kind zu vermitteln. Zudem sollte es keinesfalls auf seine Rechenstörung reduziert werden bzw. diese ständig zum Thema gemacht werden. Es ist wichtig, sich dem Kind gegenüber geduldig und unterstützend zu zeigen. Auch kleine Fortschritte sollten gelobt und dem Kind bewusst gemacht werden, um sein Selbstvertrauen und seine Motivation zu stärken. Stress und Druck sollten weitgehend vermieden werden, insbesondere beim Üben zu Hause. Eltern können etwa durch spielerisches Lernen zu Hause unterstützen, etwa durch erfreuliche gemeinsame Aktivitäten (z. B. beim gemeinsamen Backen die Zutaten abwiegen; Zählen in Bewegung beim Treppensteigen oder Ballspielen; Kaufmannsladen spielen). Professionelle Hilfe ist dabei sehr wichtig. Spezialisierte Therapeut:innen können gezielte Unterstützung bieten und auf die individuellen Bedürfnisse des Kindes eingehen. Eine Zusammenarbeit zwischen den Eltern, den Lehrpersonen und dem/der Therapeut:in des Kindes kann zusätzlich unterstützen. 

  • Danke an Mag.a Agnes Goldmann für ihre Unterstützung und die Beantwortung unserer Fragen. Mehr über Dyskalkulie und Therapiemöglichkeiten finden Sie auf der Website Agnes Goldmann - Dsykalkulie Therapie.